Erstmals veröffentlicht am
27.01.1995

Raum geben für Leben - Raum geben für Schmerz und Hoffnung

Ein Vortrag von Dr. Ursula Engelhard anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes durch den Herrn Bundespräsidenten an den damaligen Direktor des Osterhofs, Ulrich Schmid

Dr. Ursula Engelhard

Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin

Im Nachdenken darüber, was der Osterhof ist, was sein Wesen begründet, was den Kern seines Lebens und Treibens ausmacht, habe ich ein Motto gefunden, das ich für wegweisend genug halte, um Sie heute morgen einzuladen, mit mir zusammen einen Streif­zug durch das Leben des Osterhofs zu machen.

Raum geben für Leben - Raum geben für Schmerz und Hoffnung, diese beiden Gedanken-Bündel wähle ich als Leitmotiv unserer Begegnung; es handelt sich um eine Art emotionaler Gleichung: Zwei tief wurzelnde und daher zentrale Pole seelischen Lebens - Schmerz und Hoffnung - sind darin quasi eingerahmt und mitein­ander versöhnt.

Nicht, daß ich damit die Fülle all dessen, was auf dem Osterhof geschieht, eingefangen hätte: nein-, es ist lediglich der Aspekt der menschlichen Natur herausgegriffen, der mir in meiner berufli­chen Sicht als Psychoanalytikerin nahe liegt, und auch dabei wähle ich das aus, was vom augenblicklichen Stand meiner per­sönlichen Entwicklung her bedeutsam erscheint, einer Entwick­lung übrigens, aus der die Bereicherung durch die Begegnung mit dem Osterhof nicht mehr wegzudenken ist.

Im Ringen um tiefe Fragen menschlichen Schicksals, im Ringen um das Verstehen seiner konflikthaften Widersprüche und Gegensätzlichkeiten, ist es dabei das tiefenpsychologische Funda­ment, das die psychagogische Arbeit des Osterhofs und meine Beiträge verbindet; es ist dies ein psychoanalytisches Konzept, das das Leben in seinen grundlegenden, oftmals unbewußt geworde­nen Bausteinen des Anfangs verstehen will und dabei besonders die Spannung der Affekte, vornehmlich in den Nuancen zwischen Schmerz und Hoffnung, behutsam überwacht; dies ist verbunden mit einer Haltung zum Leben, die Versöhnung will - und nicht die Ausgrenzung.

Dabei zielt der Osterhof auf Einsichten in die bewußten und unbe­wußten Konflikte des Lebens durch den Dialog, einen Dialog zwi­schen gleichwertigen und gleichberechtigten Partnern, die sich gegenseitig etwas zu sagen haben und also nicht, durch Stufen von Rang und Macht getrennt, einander entfremdet sind. Es geht ums menschliche Bezogensein, ein Bezogensein, das spannungsvoll und zugleich tragend ist.

Dieser Dialog, den der Osterhof als seine ihm eigentümliche Lebensform anbietet, umfaßt mehrere Ebenen: ich greife schwer­punktmäßig heraus: Die Ebene: Kind und seine Herkunftsfamilie, in die es zurückkehren wird, wenn der Dialog Kind-Eltern wieder in Gang gekommen ist; dies geschieht mit Hilfe der beiden weite­ren Ebenen: Kind im Osterhof und: Eltern zusammen mit dem Osterhof; dies wiederum verweist auf die zentrale Achse der dia­logischen Zusammengehörigkeit der Mitarbeiter zum Osterhof ( dazu kann ich wohl auch die zahlreichen Menschen zählen, die im Verhältnis einer Pflege- oder Adoptiv-Situation Elternfunktion übernehmen), und schließlich die Ebene, auf der der Osterhof in seiner spezifischen Weise der Welt draußen nachbarschaftlich ver­bunden ist.

Wenn ich mich nun im weiteren auf die Darstellung der dialogi­schen Prozesse auf und mit dem Osterhof einlasse, beschränke ich mich dabei - meiner Kompetenz entsprechend - auf die tiefenpsy­chologisch wesentlichen Vorgänge: Es geht um das Wahrnehmen und Wahrhaben des emotionalen Geschehens in jedem einzelnen Menschen. Das heißt, offen sein für die tief im Biologischen und Affektiven verwurzelte Natur der frühen Erfahrungsmuster eines jeden von uns: Dies ist das menschliche Beziehungsangebot schlechthin, das verstanden und angenommen sein will, zu aller­erst bei einem Kind.

Wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt, begegnet es allererst Augen, den Augen seiner Mutter und seines Vaters. Froh, daß der Schmerz der Geburt hinter allen liegt, findet das Kind in diesen Blicken den Raum für seine Lebendigkeit, den Raum, in dem es sein eigenes individuelles Sein haben kann und sich in Sorge und Achtung aufgehoben fühlt. Nur in einem solchen Raum entgeht das Kind der überwältigenden Angst vor all der Hilflosigkeit und Ohnmacht, die alle Stufen seiner frühen Entwicklung in schmerzlicher Weise begleiten: Wenn es nicht der Gewalt von früher Angst unterliegen und nicht vor ihr ausweichen muß, kann das Kind auf­richtig und tief in sich selbst wurzeln. Dazu braucht es die frühe Erfahrung einer behüteten Hilflosigkeit und einer umsorgten Ver­letzlichkeit. Eingebettet in die Lebendigkeit und in die Freude sei­ner Eltern wird es darüber hinaus empfänglich für die Entdeckung, daß die Räume des Zusammenlebens sich füllen, einerseits mit dem behaglichen Angenommensein des eigenen, oft genug schmerzlichen Schwach- und Fremdseins, andrerseits - etwas spä­ter - mit dem warmen Einfühlen in die Hilflosigkeit und Verletz­lichkeit anderer. So wächst die Fähigkeit und Bereitschaft zum Dialog. Das annehmende Verständnis der eigenen gefühlshaften Situation und die darin wurzelnde Fähigkeit zur Empathie, die die Tür zum anderen, zum Nachbarn öffnet, wachsen dann zusammen zu dem, was man emotionale Reife oder soziale Selbstverwirkli­chung nennt.

Wenn allerdings diese Entwicklung des inneren Bezogenseins nicht gelingt, verweigert das Kind sein soziales Gedeihen. Wenn der Dialog zwischen Kind und Eltern stecken bleibt oder gar ent­gleist, gibt das Kind unter dem Druck verzweifelten Schmerzes sich selbst verloren, gibt sein angeborenes Bedürfnis nach Bezo­gensein und Selbstbejahung auf.

An dieser Schnittstelle des Lebens neue Hoffnung zu schöpfen und sich auf eine sich selbst neu bejahende Entwicklung zu freuen, das ist das Angebot, das der Osterhof zu entdecken hilft. Wenn also ein Kind auf dem Osterhof einzieht, sucht es noch ein­mal Räume für sein emotionales Wachstum, um der zu sein und der zu werden, der er wirklich ist. Es tut dies sicher nicht zum ersten, oft genug schon zum wiederholten Mal; es wagt dies aber vielleicht nur noch dieses eine Mal: Räume zu betreten, in denen es seine eigenen Gefühle - zumal die schmerzlichen - wahrneh­men kann, in denen es außerdem seine Verzweiflung über die Beschädigung seines eigenen Selbst verstanden fühlt und in denen es schließlich sein Recht auf ein eigenes Leben wiedererwirbt.

Zuvor hat das Osterhof-Kind sein eigenes Wesen, sein Selbstsein als zutiefst verschmäht erlebt: Es hatte in die unsicheren und zugleich begehrlichen Augen seiner Eltern geblickt; mit den unge­sättigten Bedürfnissen ihrer eigenen Kindheitserfahrungen haben sie ihr Kind für sich, zur Linderung eigener Unzufriedenheit, zur Steigerung eigener Selbstachtung und Macht gebraucht und mißbraucht. Mit seiner ganzen, von Geburt an vorhandenen Bereitschaft zur neugierigen und zugleich sich einstimmenden Annäherung an die Umgebung hat das Kind - zugunsten seiner Eltern - den Bedarf an eigenem Entwicklungsraum hintanstellen, verschließen, mitunter sogar verloren geben müssen.

Das aber heißt für das Kind, sich einen Verrat an sich selbst aufzu­bürden. Es bedeutet einen schmerzlichen Riß in der persönlichen Integrität eines Kindes: es trägt von nun an tiefste Zweifel in sich, ob es liebenswert und ob es liebesfähig ist. Das Kind stürzt damit in den Abgrund bodenloser Scham: achtlos abgetan und abgewie­sen zu sein, vernichtet jedes Wohlgefühl in ihm selbst.

Die Dämonie dieses Abgewiesenseins, dieses Übersehen- und Übergangenseins treibt das Kind in qualvollen Selbsthaß und oft genug in den menschenverachtenden, manipulativ rachsüchtigen Umgang mit sich selbst und mit den anderen hinein. Die liebevoll bezogene Abstimmung zwischen Rücksicht und Selbstbehauptung wird verfehlt.
Dahinter steht die Größe und Schwere eines Schmerzes, der für ein Kind unerträglich ist: (- ich meine übrigens auch für einen Erwachsenen unerträglich ist, wenn er z.B. unter dem Druck einer Folterung seine Menschlichkeit, alles, was ihm lieb und teuer daran war, hat preisgeben müssen-). Es ist der tief verzweifelte Schmerz darüber, in seinem eigenen Wesen nicht geschützt und nicht erkannt, nicht respektiert und häufig noch nicht einmal zuge­lassen zu sein. Vermutlich ist der schlimmste Schmerz dabei dadurch bedingt, daß die Hoffnung auf einen persönlichen Wert im eigenen Inneren verloren gegangen ist. Dies bedeutet eine zutiefst verletzende, manchmal sogar mörderische Entzweiung des Kindes - gerade mit der Umgebung, mit der es ursprünglich in sei­ner Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft gut übereinkommen wollte. Die Treue dazu aber verschärft das schmerzliche Leid, stei­gert es sogar zu einer inneren Zerreißprobe.
Wegen dieser Gefahr muß die Wahrnehmung dieses äußerst kriti­schen Zustandes unterdrückt, vor sich selbst verleugnet und aus dem inneren Leben ausgeschaltet werden. Dann freilich ist das Kind auf das reduziert, was man „von allen guten Geistern verlas­sen" nennt: es bricht die Beziehung zu seinem Inneren ab, weil es nichts Liebenswertes mehr in sich zu finden hofft, und verlegt sich aufs beziehungslose rachsüchtige Kämpfen ums Überleben draußen. Daß damit das eigene Innere in seiner Verletztheit und Verletzlichkeit totgestellt wird und zu einem verrufenen Ort schmerzvoller Unheimlichkeit verkommt, das ist es, was viele noch so einsatzfreudige Pflegeeltern bei dem Versuch, einem so verlassenen Kind neue Heimat zu geben, scheitern läßt.

Im Angesicht dieser verzweifelten Öde und Hoffnungslosigkeit stellte vor fast drei Jahrzehnten Ulrich Schmid sein eigenes thera­peutisches Konzept auf: Er wußte mit dem Osterhof Räume zu schaffen, die einladen nach Innen, hoffnungsfroh wieder nach Innen zu gehen. Mit seinem Blick für die ganz wesentliche kindli­che Bereitschaft, in sich selbst Räume des Lebendigseins zu ent­decken, schuf er eine Welt, in der die Tür nach innen aufgeht. Und genau dorthin führt die psychagogische Berufung von Ulrich Schmid jedes einzelne Kind und jedes auf seinem individuellen Weg, wo es in seinem Menschsein wurzeln will: In der tiefen und wundervollen Sehnsucht nämlich, seines eigenen Lebens -zusammen mit anderen - froh zu sein bzw. wieder froh zu wer­den.

Dessen bedarf es - im Unterschied zum Liedtext- nicht wenig: Diese Freude am eigenen Wesen und Leben baut sich auf aus den rauhen Bausteinen einer diffizilen seelischen Architektur des Lieb­habens, in der auch das dunkle Leid tiefer Erniedrigung und Ent­wertung noch seine Herberge findet.

Wenn wir uns, auf die Häuser des Osterhofs, auf ihre behagliche und warme Freundlichkeit einlassen, so geht es dabei doch nicht nur und nicht in erster Linie um die wohlgefällige Ästhetik, so wohl diese uns allen auch tut. Es geht beim Eintreten vielmehr darum, daß ein Maß gesetzt ist für die menschliche Ordnung der Dinge, ein Maß, das wir als schön empfinden, ein Maß, das jedem seinen eigenen Platz in liebevoller Achtung einräumt und zugleich seine Grenzen hegt und pflegt. Dadurch gibt es nicht nur Schutz vor den Mächten draußen; sondern es gibt auch zusätzlich innen etwas, was des Schützens wert, des Liebens wert und vor allem auch wieder wert ist:
So wie die Osterhof-Häuser in dem Wald, der im Sommer so schwarz blicken, im Winter so weiß erstarren kann, sowohl aufgehoben als auch abgehoben sind, so hebt das Osterhof-Kind seine Vergangenheit auf und entdeckt für sich den Ort, der verheißt: es ist gut hier, innen bei sich selbst zu sein und die Wurzeln seiner selbst zu entdecken. So wie die -Luft zwischen den grenzenlosen Weiten des trügerischen Himmels und der anstößigen Holprigkeit der eindeutig harten Erde Raum gibt für Lebewesen, die sich in den verschiedensten Formen und Farben ausdrücken und behaup­ten, so erkundet auch das Osterhof-Kind seine individuelle Atmos­phäre für die Spanne seiner Osterhof-Phase; es richtet sich seinen ganz persönlichen Platz, seinen auf ihn abgestimmten Platz ein und vermag sich damit - entgegen der Schwerkraft und entgegen der Fliehkraft seines bisher verschmähten Wesens - innerlich wie­der aufzurichten. Der Dialog kann wieder beginnen.

Damit aber betritt das Kind eine kritische Schwelle, auf der es in voller Aufrichtigkeit nun den alten, schon totgesagten Schmerz wieder erleben kann und will. Von neuer Hoffnung auf Verstan­denwerden auf dem Osterhof gestützt und geschützt, wagt es die Krise: die Trennung vom Elend, das seine Eltern ihm bisher berei­tet haben, ein Abschied, der zugleich eine mögliche Versöhnung anbahnt. Von innen sich herantastend, nutzt das Osterhof-Kind jetzt die Lebendigkeit der Gefühle derer, die auf dem Osterhof tätig sind: sie dienen ihm als empathische Resonanzräume und ermutigen zum Bezogensein. Gerade in dieser Etappe schmerz­lichster Verzweiflung, an diesem Wendepunkt hin zur Hoffnung auf Versöhnung entfaltet sich die psychagogische Kraft des Oster­hofs.

Dabei ist es das Kind, das mitteilt, was es wirklich für sich braucht, es gilt nicht das besserwisserische Einsetzen pädagogi­scher Aktionen oder psychologischer Strategien. Das Kind bei sich, bei seinem Kummer und seinen ungelösten Problemen gedul­dig abwartend sein lassen können - ohne es allein zu lassen -, das ist die Kunst des Verstehens durch die Osterhof-Mitarbeiter. So kann das Kind sich selbst und die mögliche Richtung seiner inneren Weiterentwicklung entdecken.

Diese Kunst des verstehenden Annehmens verlockt auch die Eltern der Osterhof-Kinder zu neuer Hoffnung: die unfruchtbare Fixierung auf ihr Versagen gegenüber dem eigenen Kind löst sich, sobald die Eltern den Bezug zu den Enttäuschungen ihrer eigenen Kindheit sehen lernen. Dann entwickelt sich durch die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal eine neue Elternschaft für das nun neu erlebte, neu entdeckte Kind.

Um dieser so lebensnotwendigen emotionalen Resonanz in Zeiten kritischer Bewegtheit bei Kind und Eltern gewachsen zu sein, sammelte Ulrich Schmid im Osterhof Menschen mit der Fähigkeit zu besonderer Achtsamkeit, allen voran - als wahre Schatzkam­mer geduldig verstehender und versöhnlicher Empathie - seine Frau Traudel. Es ist diesen Menschen gemeinsames und ernstes Anliegen, den bewußten Umgang mit eigener schmerzlicher Ver­wundbarkeit zum Thema der persönlichen Entwicklung zu machen, sei es, daß leidvolle Kindheitserfahrung im eigenen Leben auf gearbeitet und integriert wurde, sei es, daß eine geglückte Kindheit Mut und Kraft zur späteren Einfühlung in die Verletztheiten eines Kindes gab.

Das aber ist der Schlüssel zu jener Lebendigkeit, die mit dem Osterhof von Ulrich Schmid zunächst einmal auf gebaut und dann von vielen Mitarbeitern mitgetragen wurde und noch wird: es ist die Bejahung des Menschseins in seinem eigenen Inneren und dies auch als Bejahung der schmerzlichen Konflikte mit den eigenen Grenzen und Versuchungen. Mit sich selbst ins Reine zu kommen, zu sich selbst gut zu sein, dies ist der Zugang, um auch anderen gut zu sein, es ihnen gut gehen zu lassen, ein Zugang, der übrigens täglich von neuem aufgeschlossen werden muß: dieser Schlüssel geht über alle menschlichen-allzumenschlichen Unzulänglichkei­ten des Alltags so leicht verloren! Aber nur dies stete Ringen um die Aufrichtigkeit des Fühlens und Mitfühlens erschließt auch die tiefe Freude am eigenen Leben - und die Lust von diesem Reich­tum abzugeben.

Damit öffnet sich zugleich der Zugang zum Schmerz des Kindes, einem Schmerz, hinter dem sich sein Begehren auf ein erfülltes Leben verbirgt: Noch sitzt es auf der Schwelle, draußen - vorüber­gehend oft nur, aber manchmal auch für immer - draußen vor der Tür - des eigenen Elternhauses. Wer dies Kind nicht wieder allein lassen will, der muß spüren wie der frühe Verlust der Eltern das Kind immer auch mit dem Verlust seines eigenen Selbst, also mit dem Verlust der Überzeugung, ein liebenswertes Wesen zu sein, bedroht. Wer diese Bedrohung im Innersten mit seiner eigenen Fähigkeit, Schmerz zuzulassen erfaßt hat, für den ist es spontan sinnvoll, sich in seiner einfühlenden Gegenwärtigkeit klar und fest zu engagieren und eben auch Tag und Nacht zur Verfügung zu ste­hen: ein Kind, das tags geweint hat, braucht auch nachts die Augen und Ohren in seiner Nähe, die mitweinen und mitlauschen konnten; es braucht die Hände, die die Tränen zu trocknen wußten und dem Kummer verständnisvolle Grenzen zu ziehen verstanden; diese spezifische menschliche Resonanz ist nicht austauschbar und nicht manipulierbar: Das Kind darf eben nicht Objekt eines Jobs sein, sondern es nimmt als Subjekt sein Mitspracherecht in dieser dialogisch bezogenen Lebensform wahr.
Das darf nicht mißverstanden werden, als ob es um das Sichaufop­fern der Mitarbeiter aus „Mitleid mit den armen Kindern" ginge. Das würde die Echtheit jeden Dialogs verschwinden lassen und neuen Schaden anrichten. Es wird vielmehr als Chance zur Berei­cherung und Vertiefung der eigenen Persönlichkeit genutzt, wenn zusammen mit dem verletzten Kind neue hoffnungsvolle Wege entdeckt, bisher unbekannte Erfahrungen gemeinsam gemacht werden können. Das Leben eines jeden ändert sich dabei, und gerade das ist das Beglückende: das Leben - eben in seiner Verän­derlichkeit - immer wieder als neuen Dialog zu begreifen: Lange­weile gibt es da nicht.

Freilich ist dies Zusammenleben mit dem Kind nicht unerschöpf­lich: Nicht allen Konfliktspannungen können die Mitarbeiter zu jeder Zeit optimal gewachsen sein. Wenn aber an solchen Grenzen der eigenen Belastbarkeit vermittelt werden kann, daß Fehler und Schwächen nicht ausgebeutet werden, nicht zum Schlechten des Betroffenen gewendet werden, sondern eher den Zusammenhalt im Guten bestärken und Wiedergutmachung herausfordern, dann festigt sich der Dialog einer mittlerweile bereits tragfähig gewor­denen Beziehung. So mag ein Kind verärgert, enttäuscht, gekränkt sein, - zurecht, wenn etwas nicht gut gelaufen ist; aber es lernt zusätzlich zur Entschuldigung der Erwachsenen zu fragen, was es selbst dazu beigetragen haben könnte oder selbst besser machen sollte.

Mit solchem Wachsen in der Verantwortung für das Bezogensein wird das Kind schließlich nach einem langen krisenreichen Ent­wicklungsweg auf dem Osterhof seinen Abschied nehmen können. Der Schmerz dieser Trennung wird dabei lebendig werden, jetzt aber auf gewogen sein durch eine starke Zuversicht, nunmehr im Zusammenleben zurechtzukommen. Aus der Freude am eigenen Wesen heraus bejaht es die neuen Eltern oder auch die leiblichen Eltern, sofern diese ihre Innenräume in der Zwischenzeit ebenfalls haben beleben können.
Selbst dann, wenn Zeit und Raum des Lebendigwerdens auf dem Osterhof kurz bemessen waren und die Möglichkeit zur Versöh­nung somit begrenzt war, selbst dann, wenn es das einzige Mal im Leben eines jungen Menschen gewesen sein sollte, daß ihm Räume des Liebhabens geöffnet worden waren, selbst dann bleibt Hoffnung: denn die Natur der menschlichen Phantasie ist so fruchtbar, daß sie in Zeiten späterer Leere oder Einsamkeit aus sich selbst heraus und für sich selbst Freude am Lebendigsein schaffen kann. Wenn nur einmal der richtige Ton des Zusammen­gehörens angeklungen ist, dann geht die Melodie des dialogischen Zusammenlebens im Seelenleben weiter, sofern nicht neue, schwer traumatische Ereignisse alles wieder verstummen lassen.

Vielleicht gehen auch wir alle heute auf unseren Heimweg mit einer Melodie im Ohr: Froh zu sein bedarf es wenig - und doch so viel: vielleicht verstehen wir etwas von diesem dialogischen Bezo­gensein nachdenklich zu anderen Menschen hinzubringen, wohl­wissend, wieviel es bedarf an psychagogischer Kraft, um dieses Frohwerden, das Wiederfinden des Frohseins durch allen Schmerz hindurch gelingen zu lassen.

Es bleibt nun noch voll Dank zu bewundern, was Ulrich Schmid mit seinem Osterhof an Vorbild menschlichen Bezogenseins - im Geist der Versöhnung in dieser so friedlos-entfremdeten Welt geschaffen hat und ihr anvertraut: Eine Oase des Lebens, einen Brunnen der Hoffnung! Wir sind eingeladen, daraus zu schöpfen und weiterzureichen.

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