Erstmals veröffentlicht am
01.10.2015

Hilfen zum Überleben

Stationäre Psychotherapie im Psychotherapeutischen Kinderheim Osterhof

Jubiläumsrede zum 50-jährigen Bestehen

Dr. Hans Hopf

Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Dozent und Kontrollanalytiker

Liebe Traudel, lieber Uli,

liebe Bettina, lieber Martin,

sehr geehrte Damen und Herren!

Ich will in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit versuchen, zu überlegen, was denn heilend ist im Osterhof. Ich will meine Gedanken am Beispiel eines bestimmten Störungsbild aufzeigen.

In den Neunziger-Jahren wurden uns immer wieder sieben- bis zwölf-jährige Jungen vorgestellt, die einander verblüffend ähnelten. Es waren meist schmächtige, kleinwüchsige Bürschchen, zappelig und unbeherrscht, die nirgends mehr gehalten und ausgehalten werden konnten. Sie waren aggressiv und sexualisiert und zumeist von einer Respektlosigkeit, welche einem die Luft nahm. Sie agierten mit verbalen Beleidigungen und Kränkungen, Schlagen, Beißen und Treten. Nicht selten waren es Söhne allein erziehender Mütter, viele litten erkennbar unter einer Vaterentbehrung. Alle hatten sie wechselhafte Lebensgeschichten, viele fehlgeschlagene Behandlungsversuche und vielfältige und traumatisch wirkende Trennungen hinter sich. Bei allen war ein ADS oder eine ADHS diagnostiziert worden. In vielen Fällen, die uns vorgestellt worden waren, war eine Medikation mit Methylphenidat, bekannt unter dem Namen „Ritalin“, bislang die einzige Therapie gewesen.

Natürlich geht es uns gelegentlich so ähnlich. Bei großer Freude, Angst, Wut, gelingt es selbst Erwachsenen bisweilen nicht mehr, ihre Gefühle ausschließlich bei sich und in ihrer Phantasie zu behalten. Sogar reifere Persönlichkeiten können dann schon mal mit Auf- und Abgehen, Händeklatschen, zitternden Beinen, Nägelkauen und anderen Auffälligkeiten reagieren. Das geschieht allerdings erst, wenn wir an unsere Grenzen stoßen, dann läuft – bildlich gesprochen – das Fass mit unseren Gefühlen über. Aber bei solchen Kindern geschieht das dauernd, sie haben keinen inneren Raum, ihre Gefühle in sich zu halten. Alles kippen sie darum nach außen! Im Folgenden will ich eine Szene mit einem jener Jungen schildern, ich habe ihm den Namen Kay gegeben.

Kaum war Kay im Osterhof angekommen, gab es ringsum Auseinandersetzungen, da er keine Grenzen akzeptieren mochte. Die Erzieherinnen im Haus, in welchem Kay jetzt mit anderen Kindern lebte, meinten den Jungen überall und gleichzeitig wahrnehmen zu können. Er rannte durch das Zimmer, eilte die Treppe hinauf, rutschte das Geländer herunter, zwischendrin bekam ein Kind einen Fußtritt, einem Erwachsenen wurde der Stinkfinger gezeigt, alles geschah mit einer Energie und Geschwindigkeit, welche fassungslos machte. Innerhalb weniger Minuten brach er mindestens fünf Regeln und fragte gleichzeitig mit Unschuldsmiene, warum sich denn alle so aufregten. Zunehmend wirkte Kay wie ein Strudel, in den andere Kinder mit ihrem Verhalten und ihren Affekten hineingezogen wurden. Wurde der Gruppe vorgelesen, mündete alles im Chaos. Beim Basteln flogen in Kürze die Materialien umher. Kay zeigte eine außergewöhnliche Dünnhäutigkeit, mit durch lässigen Grenzen zwischen sich und seiner Umwelt, und er hielt einfach nichts aus: Er konnte nicht still sitzen, nicht aufmerken, nicht spielen, alles mündete über kurz oder lang in einer hektischen Unruhe. Zudem infizierte er die anderen Kinder mit seinem unruhig-aggressiven Verhalten, indem er sie störte und ebenfalls aggressiv machte, sodass sich in der Gruppe bald extreme Unruhe ausbreitete. Er bewies somit auch eine ausgeprägte Fähigkeit, vorhandene Erregung auf andere Menschen zu übertragen.

Nun werden viele von Ihnen wahrscheinlich denken, aha ein ADHS-Kind. Die sind so, weil sie genetisch belastet sind und weil neurophysiologische und biochemische Störungen vorliegen. Da helfen nur noch Medikamente wie Ritalin oder ähnliche. So kennen Sie das aus den Medien, und so behauptet es vor allem die Pharmaindustrie.

Doch an dieser Stelle setzt die besondere Arbeit des Osterhofs an. Kinder mit solchen Auffälligkeiten bekommen kein Ritalin, denn nicht ein Medikament soll die Kinder ruhig stellen: Ruhe ver mittelt die haltende und heilende Kraft des Osterhofs. Damit beginnt auch die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher. Diese Haltung stellt hohe Ansprüche an die physischen und psychischen Kräfte aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber die Kinder sollen so wahrgenommen werden, wie sie sind, und sie sollen den Osterhof so erleben, wie er ist.

Vorweg jedoch einige Bemerkungen zur angeblich genetisch bedingten Ursache beim so genannten ADHS. Will man bei der Aussage der offiziellen Kinderpsychiatrie bleiben, ADHS sei immer eine ausschließlich hirnorganische Störung, deren Entstehung nichts mit Beziehung und nichts mit einer veränderten Gesellschaft zu tun habe, so wollte ich einige wenige Fragen beantwortet haben. Ich benutze hierzu Daten aus dem BARMER-GEK-Arzt-Report sowie aus der Süddeutschen Zeitung vom 11.08.15:

– ADHS wird umso häufiger bei Kindern diagnostiziert, je jünger deren Eltern sind. Warum?

– In unteren Schichten wird mehr und in höheren Schichten weniger ADHS diagnostiziert. Warum?

– Bei den Söhnen alleinerziehender Mütter wird häufiger ADHS diagnostiziert. Warum?

– Etwa 75 % von allen Diagnosen betreffen Jungen. Warum?

– ADHS wird signifikant häufiger bei Kindern diagnostiziert, die mit einem Alter von weniger als sechs Jahren eingeschult wurden. (SZ, 2015, Nr. 183, S. 8). Warum?

Von 1973 bis 1995 hatte ich übrigens kein Kind wegen Bewegungsunruhe oder Unaufmerksamkeit in psychotherapeutischer Behandlung, auch nicht mit ähnlichen Begleitsymptomen und auch nicht im alten Kostüm MCD. Meine Erfahrungen mit der Diagnose ADHS begannen erst Mitte der 90er Jahre, hier im Osterhof. Die Diagnose ADHS nahm inflationär zu und ersetzte mit der Zeit fast alle anderen. Im Jahr 1993 waren es noch 1500 Diagnosen ADHS gewesen, heute sind wir bei fast 800000. Betrachten wir die statistischen Aussagen,

– so fällt auf, dass die unruhigen Kinder vor allem Jungen sind.

– dass die betroffenen Kinder offensichtlich schon früh Probleme mit Bindung und Beziehung hatten.

– Und dass fast immer ein grenzsetzender, Affekte regulierender Vater fehlte.

Die Feststellung nach diesen Ergebnissen kann nur lauten, dass Kinder, die nicht der jeweils gewünschten Norm entsprechen, mit Medikation angepasst werden. Betrachten wir die Störungen aus psychoanalytischer Sicht, so erkennen wir frühe Bindungs- und Beziehungsstörungen, aber auch die Folgen von Traumatisierungen und Vaterlosigkeit.

Diese Störungen bedürfen meist einer stationären Psychotherapie, ambulante Psychotherapie kann sicherlich auch Bindungsfähigkeit verbessern, jedoch können erst lange stationäre Aufent halte die „Zündschnur der Bindung wiederentfachen“, wie das mein Freund und Kollege Chezzi Cohen, der israelische Psychoanalytiker, so schön formuliert hat. Hiermit wird eine zentrale Auf gabe des Psychotherapeutischen Kinderheims Osterhof beschrieben. Bindung existiert nicht unabhängig, sie ist Teil einer Zweierbeziehung und braucht zur Entstehung eine ‚hinreichend gute Mutter‘, welche viele der im Osterhof lebenden Kinder nicht hatten. Bindung kann in einer Familie, auch in einer Pflegefamilie, nicht mehr entwickelt werden, weil die Beziehungen für diese mehrfach geschädigten Kinder zu dicht und darum bedrohlich wären, und die Eltern oder Pflegeltern das Maß an Destruktivität und Frustrationen nicht aushalten. Indem zwischen dem Kind und einer erwachsenen Erzieherin seiner stationären Gruppe erste Interaktionsmuster entstehen, entwickelt sich ein Raum für Gemeinsames und für einen Neubeginn von Bindung; das kann aber nur der Fall sein, wenn ausreichend einfühlsame und intensive, kontinuierliche Beziehungen zur Verfügung stehen.

Das erfüllen die Erzieherinnen und Erzieher im Osterhof tagtäglich und bestmöglich. Aber können Sie sich wirklich vorstellen, welche Leistungen ihnen oft abverlangt werden? Ich bringe einen kleinen Auszug aus dem Protokoll einer Erzieherin, über einen Jungen der gerade angekommen war:

„Ein stämmiger Junge schaut uns mit einem weitaufgerissenen Auge angespannt, jedoch auch versteckt freundlich an. Das andere Auge ist wegen Schielens abgeklebt. Als die Eltern gehen, tobt und schreit er so, dass er festgehalten werden muss. Sofort reißt er sein Pflaster vom Auge und wirft es zu Boden. Die ersten Stunden sind dann schwierig, dennoch scheint sich Leon zu mühen, seine neue Umgebung und die neuen Personen genau zu mustern. Nach kurzem Weinen schläft er abends rasch ein. Am nächsten Morgen bricht beim Frühstück seine unbeschreibliche Gewalt hemmungslos aus ihm heraus. Aufgrund einer kleinen Anweisung einer Er zieherin droht er seine volle Tasse auf den Tisch zu kippen. Als diese mit einem lauten „Nein, so nicht!“ reagiert und ihm die Tasse aus der Hand nimmt, wirft er den Stuhl zurück und spuckt der Erzieherin sein Essen ins Gesicht. In Sekundenschnelle klopft er mit seinem Messer drei Löcher in den Tisch und schreit: „Du Arschloch!“ Zu diesem Zeitpunkt ist der Junge gerade mal 4 Jahre und neun Monate alt.

Wie geht es Ihnen mit dieser Szene, schon beim Zuhören? Wie würden Sie diesen Jungen beruhigen, ohne körperliche Gewalt und ohne Rezeptblock? Denn die folgenden Fakten entsprechen der Wirklichkeit.

– Kindliche Aggressionen stecken uns an, sie machen erst hilflos, dann wütend.

– Wir können genauso unbeherrscht und unkontrolliert aggressiv werden!

– Wir versuchen uns dann oft zu rächen!

Das ist eine alltägliche Realität in den Gruppen, aber es ist andererseits auch gut so. Denn die Kinder sollen ja ihre Traumata inszenieren. Gleichzeitig werden sie aber erfahren, dass die Beziehungspersonen anders handeln als bisher, dass sie verstehen und sich nicht rächen werden. In den Gruppen findet der wesentliche Teil der Therapie statt, ergänzt durch weitere Unterstützung über Einzeltherapien, Reittherapie u. a.

Doch ein Prozess braucht auch einen Rahmen. Wir können den Verlauf einer Psychotherapie wie einen Sandkasten betrachten, in dem ein Kind spielt und seine Konflikte agiert. Ohne dessen haltende Begrenzungen würde der Sand verstreut, das Spielen des Kindes unübersichtlich und ungeordnet. Es ist dem Ehepaar Traudel und Ulrich Schmid bestens gelungen, über die Ausgestaltung eines freundlichen therapeutischen Milieus, einen idealen Raum für Therapie zu schaffen. Das räumliche und menschliche Umfeld vermittelt den Kindern bereits in Form von stummen Botschaften die Einstellungen ihrer Bezugspersonen. Der stationäre Rahmen vermittelt als Organisationsprinzip auch Regeln und Ordnungen. Er bietet Stabilität, Schutz und Sicherheit und er schafft so die stabilen Voraussetzungen für therapeutische Prozesse. Gehen wir davon aus, dass die Arbeit der Erzieherinnen eine vorwiegend mütterliche Haltung verkörpert, so können wir sagen, dass der Rahmen das Väterliche repräsentiert.

Aber kehren wir zur täglichen Arbeit der Erzieherinnen zurück und zu Leon von vorher, der seiner Erzieherin ins Gesicht gespuckt hat. Sowohl bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefiziten und Bewegungsunruhe als auch bei traumatisierten wie Leon, können wir eine Besonderheit feststellen, die bereits erwähnt wurde: Sie haben nicht gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen, ihre Affekte zu regulieren.

Was ist ein Trauma? Wird ein Kind in einer Gefahrensituation von Angst regelrecht überwältigt und überschwemmt, die alle wichtigen steuernden Fähigkeiten hemmt oder ausschaltet, so sprechen wir von einem Trauma. Trauma, Verlust und Deprivation können besonders schwere Auswirkungen auf das Selbstbild und das Weltbild eines Kindes haben, vorhandene seelische Strukturen können regelrecht zerstört werden. Das Trauma schlägt ein wie ein Blitz und gräbt sich in das Gehirn und die Seele ein.

Die nachhaltigste Auswirkung eines Traumas auf die Psyche eines Kindes besteht im Verlust der Fähigkeit zur Selbst-Regulation, oder indem der Aufbau eines strukturierten Selbst generell verhindert wird. Je jünger ein Kind zum Zeitpunkt der Traumatisierung ist und je länger das Trauma dauert, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind langfristige Probleme bei der Regulation von Wut, Angst und sexuellen Impulsen hat. Dieser Verlust der Selbst-Regulation kann sich als Aufmerksamkeitsdefizit bemerkbar machen, er zeigt sich aber auch als Unfähigkeit, im Erregungszustand Handlungen zu bremsen; diese Kinder reagieren mit unbeherrschter Angst, Wut oder Traurigkeit und werden somit ständig retraumatisiert.

Früh traumatisierte Kinder weisen oft schwere Bindungsstörungen auf, zeigen eine aggressive antisoziale Symptomatik und sind fast immer unkonzentriert und unruhig. Nicht selten sind auch kognitive Defizite festzustellen, zumindest vielerlei Teilleistungsstörungen. In vielen Fällen wird jetzt eine ‚ADHS‘ diagnostiziert.

Soweit die Theorie. Der Osterhof hilft traumatiserten Kindern im wahrsten Sinne das Trauma zu überleben. Doch was bedeutet es, alltäglich mit solchen Kindern umzugehen? Am schwersten ist wohl, auszuhalten, dass in eine scheinbar gute und sichere Beziehung unvermittelt und jederzeit zerstörerische Wut einbrechen kann. Ist wieder einmal Hoffnung entstanden, so kann sie im nächsten Moment schon wieder vernichtet werden. Liebe wird fortwährend von Hass zerstört. Es kann immer wieder zur Eskalation kommen, zum Wutanfall, weil das Kind gestört oder gekränkt wird, weil es begrenzt oder gemaßregelt wurde, weil es etwas nicht konnte, weil es etwas tun sollte…

Hilfreich ist, wenn Affekte in gemeinsamer Absprache begrenzt werden. Rahmenbedingungen können immer ausgehandelt werden, aber sie müssen auch eingehalten werden. Daran muss rechtzeitig erinnert werden! An Regeln können auch Plakate erinnern, die aufgehängt werden. Und wer gegen sie verstößt, muss auch Konsequenzen erfahren. Konsequenzen kann man durchaus auch Strafen nennen, auch wenn dieser Begriff verpönt ist, ich nenne die Dinge jedoch gerne beim Namen.

Strafen müssen für alle Beteiligten nachvollziehbar sein, sie dürfen nicht aus einem Rachebedürfnissen entstanden sein, und sie müssen eine Wiedergutmachung ermöglichen.

Im Folgenden will ich über den Jungen Luca sprechen, der von einer Erzieherin über ein Jahr intensiv beobachtet wurde, und die über seine Veränderungen während der Osterhofzeit in ihrer Diplomarbeit berichtet hat.

Schon Lucas Eintritt in die Welt war problematisch. Die Schwangerschaft mit ihm sei beschwerlich gewesen, die Mutter habe unter körperlichen Beschwerden gelitten, Lucas Geburtsgewicht war unterdurchschnittlich. Das größte Problem war damals schon der gewalttätige Vater. Es kam zu ständigen Wutausbrüchen und Misshandlungen durch ihn: In seinen ersten Lebensjahren wurden Luca, die Mutter und sowie die ältere Schwester vom Vater misshandelt, gelegentlich auch eingesperrt. Oft mussten sie hungern.

Als Luca drei Jahre alt war, floh die Mutter mit Tochter und Sohn in ein Frauenhaus, um sich vor den Grausamkeiten des Vaters zu schützen. Seitdem lebten sie von ihm getrennt und Luca besuchte ihn an jedem zweiten Wochenende. Mittlerweile hatte die Mutter einen neuen Lebensgefährten, als Luca acht Jahre alt, kam eine gemeinsame Tochter zur Welt.

Bereits im Kindergarten wurde Luca wegen seiner außerordentlichen Wutdurchbrüche auffällig. Mit fast acht Jahren wurde er in die erste Klasse der Grundschule eingeschult, um dort eine Grundschulförderklasse zu besuchen. Ein massiver Entwicklungsrückstand wurde von der Schule festgestellt. Der Kinderarzt stellte eine Störung des Arbeitsgedächtnisses, der Impulskontrolle sowie der Aufmerksamkeit fest und überwies Luca mit folgender Diagnose in ein kinderpsychiatrisches Klinikum: „Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens und emotionale Störung des Kindesalters“.

Luca wurde daraufhin in einer Tagesklinik untergebracht. Er zeigte ein oppositionell-verweigerndes Verhalten, konnte Regeln und Grenzen nicht akzeptieren und verhielt sich distanzlos und übergriffig, vor allem gegenüber Erwachsenen, dazu kamen noch Schlagen, Beißen, Spucken.

Auch in der Klinik hatte Luca täglich bis zu eineinhalb Stunden dauernde Wutanfälle, bei denen er festgehalten werden musste. Ein sofortiger Wechsel in eine vollstationäre heilpädagogische bzw. therapeutische Jugendhilfeeinrichtung mit angegliederter Schule wurde empfohlen.

Es wurden die folgenden Diagnosen festgestellt:

– AD(H)S (Mischtyp)

– Verdacht auf Traumafolgestörung, reaktive Bindungsstörung bei massiven Gewalterfahrungen in der Prä- und Postnatalzeit sowie der frühen Kindheit bei psychischer Entwicklungsverzögerung.

– Verdacht auf Zustand nach Kindesmisshandlung im Kleinkindalter, Verdacht auf unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung, abweichende Elternsituation.

Folgende Ursachen wurden für die schwerwiegenden Symptome angenommen:

Eine hochproblematische Schwangerschaft mit prä- und perinatalen Schädigungen. Frühe Bindungs- und Beziehungsstörungen sowie ein misshandelnder Vater. Dies sind übrigens häufige Vorgeschichten bei späteren ADHS-Diagnosen. Luca hatte keine sicheren Beziehungen erfahren, er hatte kein liebendes Elternpaar erlebt, und er hatte keinen Vater gehabt, der ihm dabei geholfen hätte, seine Affekte zu beherrschen – im Gegenteil.

Fernsehen und Computerspiele waren für Luca von größter Bedeutung. Er interessierte sich sehr für Waffen, und er zeichnete gerne kämpfende Maschinen oder Roboter. In seiner Phantasie hatte er immer eine Pistole dabei. Er erzählte, dass er zuhause viel fernsehen durfte, und dabei sei es ihm meistens langweilig geworden. Er meinte, dass ihm die begrenzten Fernsehzeiten im Osterhof besser gefallen würden – er konnte den schützenden Rahmen als etwas Gutes wahrnehmen.

Luca war ein unruhiges und lautes Kind. Auffällig war seine Unruhe vor allem beim Essen. Er konnte kaum still sitzen und geriet schnell in Streit mit anderen Kindern. Anfangs fiel es ihm auch schwer, sich die Namen seiner Erzieherinnen zu merken. Aus den Vor berichten war bekannt, dass er schon in anderen Einrichtungen Probleme hatte, sich Namen zu merken oder diese auszusprechen. Große Schwierigkeiten hatte Luca anfänglich auch, zusammen hängend etwas so zu schildern, dass es nachvollzogen werden konnte.

Eine seiner größten Schwächen war es, dass er sich von den Mitbewohnern seiner Gruppe sehr provozieren ließ und dann verbale Drohungen gegenüber dem Kind aussprach, das ihn geärgert hatte. Immer wieder mischte er sich auch in Diskussionen zwischen Erzieherinnen und anderen Kindern ein. Seine explosionsartigen Wutausbrüche, mitten im Spiel, waren anfangs gefürchtet. Die Stimme wurde dann nicht nur laut, sondern auch schrill. Er rastete völlig aus, lief dann in sein Zimmer, weinte dort bitterlich und wollte mit niemandem darüber reden. Im Folgenden schildert seine Erzieherin einen eindrücklichen Zwischenfall:

„Ich erinnere mich an eine Szene, als Luca wegen einem anderen Mädchen aus der Gruppe sehr zornig wurde. Er war so aufgewühlt, dass ich mit Reden überhaupt keinen Zugang mehr zu ihm finden konnte. Ich musste ihn einige Zeit festhalten, damit er das Mädchen nicht weiter körperlich attackieren konnte. Als er sich dann endlich wieder beruhigte, umarmte er mich und wollte mich nicht mehr loslassen. Später führte ich ein Gespräch mit ihm, was denn mit ihm geschehen sei. Er meinte, dass ich die erste gewesen sei, die ihn beruhigen konnte, als er wieder einmal so aggressiv geworden war.“

Mittlerweile konnte bei Luca ein immer vernünftigeres Verhalten beobachtet werden, wenn er verärgert oder frustriert war. Er konnte seinen Zorn in Worte fassen, und er beschwerte sich bei seinen Bezugspersonen, wenn ihm etwas nicht passte. Wenn er schlecht gelaunt war, konnte das leicht an seiner ernsten Miene erkannt werden. In der Schule erbrachte Luca nur schwache Leistungen, obwohl er sich sehr bemühte. Eine Überprüfung seiner kognitiven Fähigkeit durch den Leiter der Heimschule ergab einen IQ-Wert von 76. Luca hatte eine ausgeprägte Leseschwäche und ein schlechtes Schriftbild. In der Mathematik zeigte er etwas bessere Fähigkeiten und erwartete auch, dass er gelobt würde. Seine Schultasche war immer ordentlich und sauber.

Hier nochmals Zitate aus dem Protokoll seiner Erzieherin:

„Ich nahm bei Luca auch viele Stärken wahr, die er uns immer besser zeigen kann. Beispielsweise ist er sehr hilfsbereit und großzügig. Er kann die Regeln im Haus inzwischen akzeptieren und gut befolgen. Der anfänglich von Furcht und Zweifeln so sehr geplagte Junge kann sich immer besser in unsere therapeutische Wohngruppe einlassen. Er ist in der Lage, am Abend ohne weiteres alleine in sein Zimmer zu gehen und sich ins Bett zu legen. Er übernimmt auch gern die zugeteilten Aufgaben und macht sie, so gut er kann. Luca zeigt sich inzwischen auch dankbar, gerne ist er inzwischen bereit, mit anderen Kindern zu teilen. Auch ist er inzwischen in der Lage, sich zu entschuldigen, wenn er etwas angestellt hat, und er will es wieder gut machen. Was ich an ihm sehr schätze, ist sein Geschick beim Zeichnen und Malen. Er ist stolz darauf, seine hübschen Zeichnungen zu zeigen. Es freut mich auch jedes Mal, wenn er mir eine Zeichnung schenkt.

Regeln und Strukturen im Alltag werden immer wichtiger für ihn. Veränderungen sind nach wie vor schwierig für ihn. Wenn etwas nicht so läuft, wie gewohnt, kann er das nur schwer akzeptieren. Insgesamt erlebe ich Luca wacher und realitätsbezogener als früher. Im Vergleich zur Anfangszeit geht Luca auch vermehrt nach draußen und spielt mit anderen Kindern, beispielsweise Fußball oder im Sandkasten. Inzwischen kann man Luca gut annehmen und mögen.

Er hat erfreuliche Entwicklungsschritte gemacht. Vor allem kann er zeigen, dass er beziehungsfähig ist. Eines Morgens kam er aufgeregt zu mir und erzählte seinen Albtraum, dass ich vom Osterhof gegangen sei, ohne mich bei ihm zu verabschieden. Er fragte mich, ob er meine Mail-Adresse oder Telefonnummer haben dürfte.“

Ich meine, es ist nicht so schwer zu erkennen, was zu den Veränderungen des Jungen beigetragen hat. Die Erzieherinnen haben den Jungen so angenommen wie er war. Sie haben ihm gleich zeitig seine Grenzen aufgezeigt, aber immer wurden auch seine guten Seiten gesehen. Seine Wutanfälle hatten Luca selbst viel Schuld bereitet. Eindrücklich ist zu sehen, wie Luca es als ein Zeichen von Liebe erlebte, als die Erzieherin ihn festhalten musste, und wie er sie schließlich umarmte. Der ganz entscheidende Fortschritt wurde deutlich, als Luca von der anstehenden Trennung träumte. Damit wurde erkennbar, dass er das Bild seiner Erzieherin verinnerlicht und eine sichere Bindung erworben hatte. Die fortschreitenden psychischen Prozesse ermöglichten ihm einen inneren Raum für seine Gefühle, so dass er sie nicht mehr nach über Wutanfälle außen verlagern musste.

Ich stelle abschließend fest:

Bewegungsunruhe ist ein frühes und unspezifisches Reaktionsmuster. Es können Verletzlichkeiten vorliegen, die ihre Entstehung ermöglichen; doch sie entsteht erst im Zusammenspiel mit seelischen Verursachern. Frühe Bindungsstörungen und Traumatisierungen während der ersten Lebensjahre wirken sich immer auf die Entwicklung des Gehirnes aus. Darum erübrigt es sich zu diskutieren, ob organische oder psychische Verursacher für Bewegungsunruhe vorliegen, zumal wir heute von Neuroplastizität ausgehen und wissen, dass sich auch hirnorganische Störungen verändern können. Unsere Gesellschaft produziert zwar unruhige, konzentrationsgestörte Kinder, doch sie erträgt sie nicht:

Kinder mit Unruhe und Aufmerksamkeits störungen brauchen Einfühlung und haltende Grenzen, sie brauchen Psychotherapie und in der Regel keine Medikation. Darum brauchen wir den Osterhof – sicherlich noch mindestens weitere 50 Jahre!

Ich gratuliere dem Osterhof und danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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